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miteinander 5-6/2025
Aus einer beschaulichen Hafeneinfahrt wurde schlagartig ein gefährliches Wendemanöver: Die von einem plötzlichen Sturm hochgeschaukelten Wellen drohten das Segelschiff noah gegen die Mole zu werfen. „Es war klar, wir müssen raus auf die offene See, der geschützte Hafen war die Gefahr, denn dort konnten wir am Widerstand der Hafenmauer bersten“, erinnert sich Nora, die als Jugendliche in den Anfangsjahren des sozialpädagogischen Segelschiffs dabei war, an diese Sturmfahrt in der Ägäis zurück. Seit über vierzig Jahren ist der zwanzig Meter lange frühere Fischkutter eine schwimmende Lebens-, Lern- und Wohngemeinschaft, in der verhaltensauffällige Jugendliche Tritt fassen und ein Schuljahr absolvieren können.
Glücksgefühle
„Als wir schließlich unbeschadet auf der aufgepeitschten, aber offenen See schaukelten, stellte sich dieses Glücksgefühl ein, das jede Bewältigung einer brenzligen Situation begleitet“, heißt es in Noras Erinnerung an die Sturmfahrt weiter. Ihre Beschreibung, dass sie die Wende hinaus auf die offene See vor einem Unglück bewahrte, während im vermeintlich sicheren Hafen Lebensgefahr drohte, lässt sich generell auf das pädagogische Konzept der noah übertragen: Raus aus dem bisherigen Umfeld mit seinen negativen Verhaltensmustern, auf zu neuen Ufern, die nach ruppigen Wellenritten bessere, stabilere Verhältnisse versprechen. Damals, als die noah nach ihrer Sturmfahrt wieder in ruhiger See ankerte, meldete sich eine Kollegin von Nora freiwillig zum Aufräumen der verwüsteten Kombüse. Sie kenne dieses Durcheinander leider gut, erklärte die Jugendliche ihre Bereitschaft, bei ihr zu Hause würde der alkoholkranke Vater regelmäßig solches Chaos hinterlassen.
Chaos und Vernachlässigung
Die familiäre Herkunft der Jugendlichen auf der noah mit dem Schlagwort „zerrüttete Verhältnisse“ zusammenzufassen, greife zu kurz, sagt Nicole Ortner. Genauso gebe es den Fall, wo sich eine Tochter um die schwerkranke Mama kümmerte, weshalb soziale Kontakte, Schule inklusive, verloren gingen. Oder ein Geschwister ist verstorben, die Mutter verfiel in Depression und konnte sich um ihr anderes Kind nicht weiter kümmern. Solche und andere Varianten zählt Ortner auf, „in denen Kinder ihr Kindsein nicht mehr leben können“. Allen gemeinsam ist, dass „sie Vernachlässigung erlebt haben“, sagt die Geschäftsführerin im Arbeitskreis Noah, jenem Verein für Sozialpädagogik und Jugendtherapien, der neben Wohngemeinschaften für Kinder und Jugendliche in Wien und Maria Gugging auch die noah-Törns organisiert. Wer aus den Wohngemeinschaften für ein Schuljahr auf das Segelschiff wechselt, entscheiden Ortner und ihr Team, denn „der Mikrokosmos noah passt nicht für jedes Kind und auch die Bezugssysteme daheim, ob Oma, Tante oder sonst wer, müssen unterstützen“.
Die Herausforderung für die vier ausgewählten Jugendlichen ist groß: zehn Monate lang, immer mit den gleichen Leuten, immer auf engstem Raum. Man versteht Ortner, wenn sie sagt: „So viel Beziehung kann bedrohlich sein, noch dazu, wo diese Kinder oft von ihren engsten Beziehungen enttäuscht wurden und inErwachsene kein Vertrauen mehr haben.“
Schiffs- und Schulphasen
Sich aufeinander verlassen zu können, ist das Um und Auf am Schiff. So wie der Skipper, die Skipperin, so wie die Sozialpädagoginnen und -pädagogen müssen die Jugendlichen Aufgaben an Bord übernehmen. „Auf der noah zu leben, mit allen Facetten, bedeutet Kochen, Abwaschen, Disziplin, Anstand und ein Teil der Mannschaft werden“, fasst Urs, einer der Kapitäne, die Pflichten an Bord zusammen. Dass das gerade in der Eingewöhnungsphase zu Schulbeginn, bei Schlechtwetter oder im Winter schwierig ist, bestätigen alle an Bord. „Da hat es ein paarmal ordentlich gekracht“, erinnert sich Sozialpädagogin Anna.
Schiffsphasen auf hoher See und Schulphasen, in denen die noah in einem Hafen anlegt, wechseln sich ab. Wo gesegelt, geankert, gelernt wird, ob im Golf von Biskaya oder in britischen Gewässern oder anderswo, hängt von Wind und Wetter ab. Wohin die Jugendlichen ihre Lebensreise nach dem Segeltörn führt, hängt ebenfalls von äußeren Umständen ab, aber auch vom Kurs, den sie am Schiff einzuschlagen gelernt haben. Oder wie es der 14-jährige Raffael beschreibt: „Ich habe mir auf der noah oft überlegt, was ich dann in Wien besser machen könnte, und da gibt es viele Sachen.“
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