Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 5-6/2025
Entschuldigung: „Is’ das der 46er?“ Einmal. Keine Antwort. Zweimal. Stille. Erst beim dritten Mal drehen sich einige Umstehende nach einer blinden Frau um – nicht etwa, um zu helfen, sondern um ihr Ersuchen mit offensichtlicher Verwunderung zu registrieren. Ich selbst bemerke sie erst in diesem Augenblick, da meine Kopfhörer mich bis dahin zuverlässig von der Umgebung abgeschirmt hatten. Ironischerweise singt in meinen Ohren Wiens „Grant-Spezialist“ Helmut Qualtinger: „Verreck, verkumm, i drah mi ned um.“ Ein rascher Blick auf die Anzeigetafel, dann endlich die Antwort: „Nein, des is’ der 49er. In zwei Minuten kommt der 46er.“ Und während ich das sage, frage ich mich, ob ich nun tatsächlich etwas Gutes getan habe oder ob mein Eingreifen nur das unerträgliche Schweigen unterbrochen hat, das sich zwischen der Bitte der Dame und der Gleichgültigkeit der Wartenden ausgebreitet hatte.
Wortlose Kommunikation
Wien ist eine Stadt, die mit der Kunst der wortlosen Kommunikation bestens vertraut ist. Die Menschen begegnen einander mit einer Mischung aus höflicher Distanz und hantiger Herzlichkeit, die oft nur Eingeweihte zu entschlüsseln vermögen. Vielleicht liegt darin der Grund, warum sich niemand genötigt sah, der blinden Frau zu antworten. Oder warum eine andere Dame mit unübersehbarer Entschlossenheit auf mich zurast und mich schließlich mit einer derartigen Wucht rammt, dass mir für einen Moment der Atem stockt – um sich dann mit den Worten: „Putz di, Gschissener“ bei mir zu „entschuldigen“.
Man könnte es als Charme der Großstadt abtun, als eine unverblümte Ehrlichkeit, die auf sentimentale Förmlichkeiten verzichtet. Doch es ist bezeichnend für ein Verhalten, das sich nicht nur in der Anonymität der Stadt zeigt, sondern auch dort, wo man ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl vermuten würde. In meinem Heimatdorf in Oberösterreich, wo man sich noch persönlich kennt, begegnet mir dasselbe Prinzip, nur mit anderem Anstrich: Sechs Bekannte tuckern in ihren Autos an mir vorbei, während ich mit Reisekoffer und Tasche vor der Haustür stehe, auf meinen Vater wartend. Keiner grüßt, keiner winkt – nur starre, ausdauernde Blicke, die mich mustern, als sei mein Warten ein ungewöhnlicher Vorgang, der einer eingehenden Analyse bedürfe. Die wahre Ironie daran? Würde ich es wagen, diese Leute beim nächsten Mal nicht zu grüßen, wäre ich schlagartig zum Dorfgespräch avanciert. Genau jene, die mir heute stumm entgegenblicken, wären morgen die Ersten, die sich über meine Unhöflichkeit echauffieren würden.
Zwischen Hilfe und Nichtstun
So bleibt mir nichts anderes übrig, als zu erkennen: Man muss sich seinen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung sorgfältig erspielen – durch nonverbale Konventionen, die von Außenstehenden nicht hinterfragt werden dürfen.
Doch vielleicht ist es genau diese Selbstverständlichkeit der Unaufmerksamkeit, die uns immer wieder in jene Situationen bringt, in denen ein einfaches, wortloses Nicken bereits als außergewöhnliche Tat gilt. Sei es das kaum merkliche „Danke“, das man einem Autofahrer entgegenmurmelt, wenn er einen die Straße überqueren lässt, oder der Moment, in dem man die Tür der Straßenbahn für jemanden offenhält – mit der unausweichlichen Konsequenz, sich den Unmut des Fahrers sowie der anderen Fahrgäste zuzuziehen, da eine solche Verzögerung, selbst bei körperlich beeinträchtigten Menschen, nicht zu tolerieren ist.
Moralisches Dilemma
Es bleibt die Frage: Bin ich ein guter Mensch, wenn ich einer einzigen Person das Mitfahren ermögliche, während ich gleichzeitig das Wohl der vielen anderen hintanstelle? Oder ist es bloß der verzweifelte Versuch, mich selbst als guten Menschen wahrzunehmen, ohne dabei die eigentliche Absicht zu hinterfragen? Vielleicht geht es gar nicht darum, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Eventuell genügt es schon, in jenen Momenten, in denen die Welt uns auffordert, einfach weiterzugehen, für einen Augenblick innezuhalten – und zu erkennen, dass das bloße Hinschauen manchmal mehr wert ist als die höchsten moralischen Überzeugungen. Denn so sehr ich Helmut Qualtingers Lyrik schätze, muss keiner „verrecken oder verkommen“, damit ich mich trotzdem nach ihm umdrehe – und bei Rücksicht und Nachsicht nicht „speibm“ muss.
Rainer Manzenreiter
ist Öffentlichkeitsbeauftragter und Social-Media-Manager beim Canisiuswerk, Redakteur des miteinander-Magazins sowie freier Journalist und Künstler.