Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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Corona dominiert derzeit alles. In der Politik werden Beschlüsse wie etwa jener zum Lockdown gleichsam hinter verschlossenen Türen von Experten getroffen und dann verkündet. Ist das demokratiepolitisch nicht ein Problem?
Konrath: Es kann ein Problem werden, wenn demokratische Gremien und Institutionen nicht in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Die aktuelle Situation verlangt sicher, rasch Entscheidungen zu treffen. Dem sind unsere europäischen Demokratien mit ihren langen Diskussions- und Beratungsprozessen nur bedingt gewachsen. Gute politische Entscheidungen brauchen aber solche Diskussionsprozesse etwa in Ausschüssen der Parlamente. Das funktioniert auch dort, wo es eine stetige Praxis gibt, etwa in den skandinavischen Staaten. In Österreich haben wir aber wohl einen gewissen Nachholbedarf.
Gabriel: Ich möchte bei der Frage etwas tiefer ansetzen, das heißt beim Individuum selbst. Denn mich treibt schon seit Längerem die Beobachtung um, die ich den „Berlusconi-Effekt“ genannt habe – man könnte auch vom Johnson- oder Trump-Effekt sprechen: Warum treffen mündige Wähler eine Wahlentscheidung für Politiker, die moralisch zweifelhafte Handlungen setzen? Als These formuliert: Ist es schwieriger geworden, heute eine reife Wahlentscheidung zu treffen, die sich sachgemäß an der politischen Wirklichkeit orientiert? Vielfach geht es weder um echte eigene Interessen noch um das Gemeinwohl, sondern Wähler sitzen Scharlatanen auf, die sich medial optimal präsentieren. Das scheint mir heute das demokratiepolitisch dramatischere Problem darzustellen.
Damit lenken Sie das Gespräch gleich auf die spannende Frage, was denn Kriterien für eine „gute“ Wahlentscheidung sein können …
Gabriel: Als Theologin glaube ich, dass die traditionelle Katholische Soziallehre durchaus einige Prinzipien bereithält, die für eine gute Wahl hilfreich sind: etwa das Prinzip der Solidarität, die Frage, welche Folgen eine Wahlentscheidung für die Armen und Ärmsten haben könnte, welche Folgen sich für die Umwelt aus ihr ergeben – Stichwort Klimawandel –, das Prinzip der Subsidiarität, die Einhaltung der Grundrechte und vieles mehr. Sich die Programme von Parteien unter diesen Gesichtspunkten anzusehen, macht kritische Rückfragen an die Politik möglich. Und hier ist eine ernste Frage zu stellen: Setzt die Politik aller Parteien in der Wahlrhetorik nicht zu sehr ausschließlich auf das (monetäre) Eigeninteresse des Wählers? Anders gesagt: Werden die Wähler nicht von der Politik moralisch unterschätzt?
Konrath: Diesen Ball möchte ich aufnehmen: Denn tatsächlich dominiert in der Wahlforschung nach wie vor das Bild des rationalen Wählers, in dem Sinn, dass ein Wähler seine Entscheidung vor allem im Blick auf eine bestimmte Nutzenmaximierung trifft. Das hat das politische Marketing schon früh aufgegriffen und Wahlen wie Produktkampagnen aufgebaut. Ich soll mich für das entscheiden, wovon ich mir persönliche Vorteile erwarte. Das unterläuft aber sowohl die faktische Komplexität der Probleme, vor denen wir heute stehen, als auch die Mündigkeit der Wähler.
Aber lässt nicht die Beobachtung des „Berlusconi-Effekts“ an der Grundannahme der Mündigkeit der Wähler zweifeln …?
Gabriel: Sie sprechen damit etwas an, das ganz wichtig ist: die politische Bildung. Diese fehlt in Österreich leider über weite Strecken. In den Schulen ist sie oft nur ein Anhängsel an den Geschichtsunterricht. Selbst im akademischen Bereich stelle ich fest, dass Studierenden oftmals die Wissensbasis fehlt, auf der sozialethische Debatten aufsetzen sollten. Da setze ich meine Hoffnungen auch auf den Ethikunterricht …
Konrath: Unser Modell einer repräsentativen Demokratie ist ein sehr anspruchsvolles Modell. Es verlangt nämlich eine Transparenz der Politik vom Parlament über die Politiker bis zum Bürger. Im Idealfall sollte in diesem Modell jeder Bürger „seinen“ Parlamentarier kennen und wissen, wofür er oder sie steht. Das ist in Österreich faktisch nicht gegeben. Daher sollte politische Bildung auch darauf zielen, BürgerInnen Zugänge zu politischen Debatten und Entscheidungsprozessen aufzuzeigen. Der Weg dahin ist aber noch ein weiter.
Gibt es eigentlich in der Parteienlandschaft noch „die“ christliche Stimme?
Gabriel: Nein, und das ist auch gut so. Es finden sich christliche Prinzipien und Fragmente in vielen Parteien – und das fördert die politische Dynamik: So hat etwa in der ÖVP eine Debatte über christlich-soziale Werte und deren Stellenwert in der Partei eingesetzt, da man gesehen hat, dass Kernwähler abhandenkommen, weil sie etwa bei den Themen Flüchtlingspolitik oder Klimawandel ihre christlichen Überzeugungen woanders besser vertreten sehen. Die Vorstellung, dass es nur eine für Christen wählbare politische Option gibt, entspricht einfach nicht mehr dem heutigen Verständnis, auch nicht jenem der Kirchen, und darin sehe ich einen Fortschritt.
Aber gibt es nicht politische „rote Linien“ für Christen, etwa bei einem Thema wie Lebensschutz?
Gabriel: Es ist meines Erachtens falsch, ein einziges Thema über alle anderen Fragen zu stellen und so zu tun, als würde sich ausschließlich daran eine christliche Wahlentscheidung und Weltanschauung festmachen lassen. Dem „Lebensschutz“ und der Lebensförderung in einem weiteren Sinn sollten ja alle politischen Entscheidungen dienen. Wir haben es hier im Politischen über weite Strecken mit Abwägungen zu tun, welchem Thema in einer bestimmten Situation mehr Bedeutung beizumessen ist. Diese Entscheidung muss ich auch als Christ treffen. Und da sind auch bei heiklen Fragen immer mehrere Optionen denkbar.
Um am Ende den Bogen zum Anfang zu schlagen: Sehen Sie Österreich in einer demokratischen Krise?
Konrath: Nicht unbedingt. Auf institutioneller Ebene funktioniert unsere Demokratie nach wie vor gut. Das sollte man auch nicht kleinreden. Aber in der Tat müssen wir im Bereich der politischen Bildung investieren – und zwar in Richtung einer Befähigung zu aktiver Bürgerschaft. Gute politische Entscheidungen, auch Wahlentscheidungen, werden getroffen, wenn Menschen „citizenship“ leben, das heißt, sich als Bürger aktiv in Debatten einbringen und mitgestalten wollen. Jeder von uns steht in politischer Verantwortung.
Gabriel: Dem möchte ich zustimmen! Und an die eigene Kirche gewendet hinzufügen: Wir sollten diese Idee der aktiven Bürgerschaft auch innerkirchlich wieder mehr fördern. Es gibt ja durchaus Stimmen, die meinen, das Christentum sollte nicht politisch sein. Ich trete für das Gegenteil ein: Wir stehen als Christen in der Pflicht, Welt und Gesellschaft mitzugestalten – zugleich aber wissen wir darum, dass Gott das letzte Wort hat und dass wir uns hüten sollten vor dem Anspruch, eine perfekte Gesellschaft errichten zu wollen.
Zu den Personen:
Dr. Ingeborg Gabriel
ist emeritierte Professorin für Christliche Gesellschaftslehre und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie war darüber hinaus u. a. OSZE-Sonderbeauftragte für den Kampf gegen Rassismus, Xenophobie, Intoleranz und Diskriminierung sowie Vizepräsidentin von Iustitia et pax Europa.
Dr. Christoph Konrath
ist Jurist und Leiter der Abteilung Parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit im Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftlichen Dienst der Parlamentsdirektion.