Mag. Lukas Cioni
Redaktionsleiter / Chef vom Dienst
miteinander-Magazin
Stephansplatz 6
1010 Wien
Tel.: +43 1 516 11-1500
Sie haben eine neue Adresse? Schreiben Sie uns hier oder rufen uns unter DW 1504 an.
Frau Mooslechner-Brüll, was ist bei Entscheidungen eigentlich wichtiger: die nüchterne Vernunft oder das Bauchgefühl?
Der Utilitarismus würde zum Beispiel sehr rational vorher abwägen, welche Entscheidung mehr Freude für alle Betroffenen bringt, und danach die Entscheidung ausrichten. Allerdings ist dies nicht einfach, weil wir nie sämtliche Folgen unseres Handelns in den Blick bekommen können. Andere Philosophien vertreten den Standpunkt, dass eine Entscheidung immer eine Dilemmata-Situation darstellt. Denn wüsste ich genau, was die Konsequenzen meines Handelns sind, handelt es sich um eine Wahl, nicht um eine Entscheidung. Eine Entscheidung, so zum Beispiel Søren Kierkegaard, ist immer ein „Moment des Wahnsinns“. Sie erfordert einen Sprung ins Nichts. Damit kann sie gar nicht anders, als über das Gefühl getroffen werden. Schlussendlich stellt sich doch die Frage nach Henne oder Ei: Beeinflusst vielleicht unser Gefühl unser rationales Denken oder bewirken unsere rationalen Abwägungen sogar ein Gefühl? In der Realität wird es sich bei jeder Entscheidung um ein Mischverhältnis zwischen Bauchgefühl und rationalem Kalkül handeln.
Entscheidungen können ängstigen, wenn man nicht weiß, was daraus folgt. Was kann die Philosophie zur Überwindung der Angst bieten?
Hier gibt es etwa einen sehr hilfreichen Gedanken des politischen Philosophen Ernesto Laclau: Dieser versteht den Menschen als Wesen, das sich erst in der Entscheidung formiert. Das Ich entsteht überhaupt nur durch die konkrete, individuelle Entscheidung. Der Sprung, von dem oben die Rede war, macht uns zu dem, wer wir sind. Damit hat der Moment der Entscheidung etwas Identitätsstiftendes an sich und ermutigt zu einem fast euphorischen Entscheiden.
Wichtige Entscheidungen wollen wir in Ruhe bedenken. Aber gibt es auch ein „Zu-Spät“ dabei? Wie lange sollte man sich Zeit lassen?
Wer zu lange eine Entscheidung hinauszögert, hat sich auch entschieden. Auch das Nicht-Entscheiden ist eine Entscheidung, denn dann lasse ich dem Geschehen rund um mich freien Lauf und es wird dennoch etwas passieren. Etwas, das anders gewesen wäre, hätte ich mich zu einer Entscheidung durchgerungen. Natürlich gibt es aber auch Situationen, in denen eine Entscheidung notwendig wird, die weitreichende Folgen hat. Schlussendlich geht mit der Entscheidung eine enorme Verantwortung einher. Um die volle Verantwortung für diese Folgen übernehmen zu können und sich ihrer bewusst zu werden, macht es durchaus Sinn, einen zeitlichen Abstand zwischen Überlegung und Entscheidung herzustellen.
In modernen Gesellschaften wird auch der persönliche Lebenssinn zu einer Sache, zu der ich mich entscheiden muss. Ist das ein Problem?
Wir haben eine Sehnsucht danach, dass uns gesagt wird, was das Gute sei. Es ist viel einfacher, Vorgaben zu folgen, als sich selbstständig Antworten zu geben. Allerdings ist „Sinn“ immer subjektiv und individuell. Ich kann mich vielleicht einer Vorstellung eines höheren Sinns oder einer „größeren Sache“ anschließen, es ist aber immer noch meine eigene, individuelle Überzeugung, die mich zum Glauben an dieses größere Ganze führt.
In vormodernen Gesellschaften hatten die Menschen weniger Wahlmöglichkeiten. War das entlastend?
Es ist einfacher, einer Bestimmung oder einer Tradition zu folgen, als für sich selbst die Sinnfrage immer wieder neu zu stellen und zu beantworten. Den „Schwindel der Freiheit“ nannte das Kierkegaard – oder: die Angst. Natürlich können wir uns durch Wahlmöglichkeiten überfordert fühlen, auf der anderen Seite ist diese Freiheit eine große Errungenschaft. Schlussendlich stellt sich die Frage: Welche Entscheidungen, die ich treffe, sollen eine Kontinuität darstellen, damit ich mich in meiner Person wohlfühlen kann. Ich kann selbst entscheiden, ob ich jeden Tag meinen Stil, meinen Ausdruck oder meine moralische Grundhaltung ändern möchte.
Heute werden uns viele Entscheidungen von Computern abgenommen. Sind Entscheidungen auf Basis von Algorithmen besser?
Computergesteuerte Systeme können bisher Entscheidungen nur auf Basis von menschlichen Programmierungen treffen – oder nach dem Zufallsprinzip. Bei der Programmierung selbst fahrender Autos wurde zum Beispiel ein „algorithmic bias“ entdeckt, d. h. Programmierer haben ihre eigenen Vorurteile (zum Beispiel rassistische) in die Maschine programmiert. Das Problem ist, dass wir die Verantwortung für unsere Entscheidungen gern abgeben würden. Und hierfür können wir uns in unserer wissenschafts- und technikgläubigen Zeit nichts Besseres denken, als sie uns von Maschinen abnehmen zu lassen. Ich denke, dass wir uns der Notwendigkeit unseres Entscheidens und Handelns wieder mehr bewusst werden müssen und auch und vor allem, dass wir tatsächlich so etwas wie Handlungsmacht besitzen.
Dr. Cornelia Mooslechner-Brüll
ist Philosophin und seit 2016 Geschäftsführerin von PHILOSKOP (griechisch für: „Liebe zur Betrachtung“). Dort bietet sie unter anderem philosophische Wanderungen, Einzelgespräche, Philosophieren mit Kindern und einen philosophischen Salon an; www.philoskop.org