Mag. Lukas Cioni
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miteinander 7-8/2024
Warum beschäftigen sich Kirche und Gesellschaft erst jetzt mit geistlichem Missbrauch?
Geistlicher Missbrauch als eine Form des emotionalen Missbrauchs ist nicht immer klar erkennbar und nicht so leicht greifbar wie der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs. Sich mit geistlichem Missbrauch zu beschäftigen, heißt, sich mit Strukturen und Dingen auseinanderzusetzen, die in der Kirche verwurzelt sind und schnell missbraucht werden können.
Können Sie Beispiele dafür nennen?
Grundsätzlich kann Hierarchie wichtig und hilfreich sein, aber auch missbraucht werden.In der Generation meiner Großeltern etwa haben Geistliche oft unhinterfragt ihre spirituelle Autorität ausgenutzt, um z. B. in die Familienplanung hineinzureden. Die Versuchung ist auch heute noch groß, den Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche zu missbrauchen, um Menschen damit
zu manipulieren und ihnen zu sagen, was der Wille Gottes sei.
Ist geistlicher Missbrauch daher ein Zeichen, dass Kirche insgesamt ein toxisches System darstellt?
In der Kirche hat es schon immer geistlichen Missbrauch gegeben, es wurde aber über Jahrhunderte nicht öffentlich hinterfragt und war somit nicht besprechbar. In meiner Forschung beschäftige ich mich mit neuen geistlichen Gemeinschaften. Hier haben wir es oft mit alten Strukturen im neuen Gewand zu tun.
Für ihr Buch interviewten Sie acht Betroffene. Dabei zeigte sich, dass Menschen auf der Suche nach ihrer Berufung besonders anfällig für geistlichen Missbrauch sind. Wieso?
Neue geistliche Gemeinschaften bieten Sinnstiftung. In einer Zeit, in der viele Menschen von der Kirche frustriert sind, strahlen sie aus: Wir haben eine Vision und einen Auftrag. Ihr Heilsversprechen lockt Menschen an, die ihren Glauben entschieden leben wollen.
Warum ist es so schwer, aus einem missbräuchlichen System auszusteigen?
Viele Betroffene denken: „Wenn Gott einen Plan und eine Berufung für mich in dieser Gemeinschaft hat, dann kann ich nicht so einfach gehen.“ Eine existenzielle Angst ist, die soziale Zugehörigkeit zu verlieren. Die Gemeinschaft wird oft zum Familienersatz. Betroffene sagten mir: „Ich habe niemanden mehr. Ich habe keine Freunde außerhalb der Gemeinschaft und mit meiner Familie habe ich gebrochen.“ Neue Kontakte zu knüpfen, ist herausfordernd. Dazu kommt manchmal die finanzielle Abhängigkeit von der Gemeinschaft. Manche Menschen haben ihr Hab und Gut aufgegeben, keine Berufsanstellung mehr oder nicht einmal eine Ausbildung absolviert.
Welche psychischen und physischen Folgen hat geistlicher Missbrauch?
In Abhängigkeit von der Dauer und der Intensität, ist der Missbrauch in vielen Fällen eine traumatische Erfahrung mit posttraumatischen Symptomen als Folgen wie z. B. Depression und Angststörungen. Ich kenne Betroffene, deren Gesundheit geschwächt ist, die dauerhaft körperlich erschöpft oder psychisch angeschlagen sind.
In ihrer Beratung geht es anfangs darum, zu stabilisieren. Welche Chancen auf Heilung gibt es?
Mein Buchcover zeigt Bruchlinien, die mit Gold gekittet wurden, weil ich sagen will, dass es immer Hoffnung auf Heilung gibt. Dennoch wird der geistliche Missbrauch ein Lebensthema für Betroffene bleiben. Eine Frau möchte beispielsweise nur mehr in der letzten Reihe einer Kirche sitzen, um jederzeit gehen zu können, wenn die Liturgie sie triggert. Für die Heilung ist es wichtig, das Erlebte auf Dauer ins eigene Leben zu integrieren. In vielen Fällen ist das jedoch ein langer und schmerzhafter Prozess, der eine professionelle Begleitung braucht. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen kann entlasten und Hoffnung geben.
Täterpersonen von geistlichem Missbrauch werden kaum zur Rechenschaft gezogen …
Der Bischof der Diözese Münster entzog der Gemeinschaft Totus Tuus nach einem
fünfjährigem Visitationsprozess die kirchliche Anerkennung. Hier wurde ein Exempel statuiert. Aber es bleibt noch viel zu tun. Mit dem Kirchenrecht kann man dem geistlichen Missbrauch in Teilen begegnen, das weltlichen Recht greift hier nicht. Frankreich ist da Vorreiter: Der Umgang mit sektiererischen Phänomenen und toxischen Gemeinschaften ist im Rechtssystem geregelt. So können Täterpersonen zur Rechenschaft gezogen werden, die Menschen auf psychische Weise Schaden zufügen.
Stephanie Butenkemper
ist Diplom-Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin, Mitglied im Arbeitskreis „Spiritueller
Missbrauch“ der deutschen Diözese Dresden-Meißen und Autorin.
Stephanie Butenkemper: Toxische Gemeinschaften. Geistlichen und emotionalen Missbrauch
erkennen, verhindern und heilen. Herder-Verlag: 2023, ISBN: 978–3- 451–39378–5, € 24,00